Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

<- voriges Kapitel

nächstes Kapitel ->

Horrortrips

   In den ersten Nachkriegsjahren bargen längere Autofahrten stets unkalkulierbare Risiken und arteten gelegentlich zu wahren Horrortrips aus, obwohl - oder gerade weil - von Straßenverkehr kaum die Rede sein konnte. Pannen, und die waren bei den alten Klapperkästen keine Seltenheit, bedeuteten oft stundenlanges Warten auf Hilfe. Nachts war man in solchen Fällen rettungslos verloren, dann rührte sich nichts mehr auf Deutschlands Fernstraßen, auf denen im übrigen Bräuche herrschten wie auf hoher See. An einem Havaristen fuhr keiner achtlos vorüber; jeder trat auf die Bremse und bot Beistand an. Größe Hilfsbereitschaft war unter Kraftfahrern eine Selbstverständlichkeit. Freilich gab es nur wenige. Wenn einem auf der Autobahn zwischen Hersfeld und Frankfurt tagsüber, von Militärkolonnen einmal  abgesehen, insgesamt zehn Autos begegneten, dann obwaltete sozusagen schon Hochbetrieb. 

   Bei einer Rückfahrt von Schwelm, der Geburtsstadt des Verlegers, machte am Ortseingang von Brilon der rechte Vorderreifen schlapp. Es war kurz vor Mitternacht, also tote Hose weit und breit. Immerhin brannte im Hotel rechter Hand noch Licht, und der Wirt hatte auch ein Zimmer frei.

   Der Chef entkleidete sich bis auf die Unterwäsche, Bolle dagegen zog seine Handschuhe an bevor er ins Bett stieg.

   "Wollen Sie sich nicht ausziehen?" fragte höchst verwundert sein Brötchengeber, der, wie schon erwähnt, schlecht sah. 

   "Nee! Nehmen sie mal das Laken in die Hand."

Der Verleger tat es, zog sich hastig wieder an und holte ebenfalls seine Handschuhe aus der Manteltasche.

Die Laken klebte wie Pech. Verglichen mit dem hier, war das Bettzeug in  Querfurt blütenweiß gewesen.

   Im Rahmen der Umerziehung des deutschen Volkes wurde in München eine Presse-Ausstellung aufgezogen, auf der - so wünschten es die Amerikaner - die kleine  "Werra-Rundschau" mit einem Stand die Heimatzeitungen repräsentieren musste. Tagsüber erläuterte Bolle interessierten Besuchern anhand der mitgebrachten Schaustücke wie Hellschreiber, Matern und Druckplatten den Herstellungsprozess einer Zeitung, nächtens kreuzte er durch die Straßen Münchens und spielte für die ihren Kasernen zustrebenden amerikanischen Soldaten den Taxichauffeur. Die Bezahlung bestand aus Zigaretten, Schokolade und Konserven, die er redlich mit dem Verleger, der Redaktionssekretärin  und dem inzwischen zur Redaktion gestoßenen Grafiker teilte, der den Stand künstlerisch gestaltet hatte. Einmal erhielt er sogar ein dickes Paket mit wundervollen Roastbeefscheiben; der Fahrgast war wohl im Küchenbereich  tätig und hatte vermutlich seine Freundin verpasst.

   Den Mercedes parkte er immer haarscharf rechts an der Hauswand unter seinem Hotelfenster im dritten Stock. Nach dem Erwachen galt sein erster Blick von oben dem kostbaren Vehikel;  wenn es noch dar war, atmete er erleichtert auf. Auch am vorletzten Tag stand der Wagen noch auf seinem Platz. Die spätere Seitenansicht - Donnerschlag! - machte indes tief betroffen: Das linke Vorder- und das Hinterrad fehlten. Der Wagen hing dennoch nicht schief, die Diebe hatten ihn mit ein paar Ziegelsteinen säuberlich aufgebockt. Das Reserverad im nicht mehr verschließbaren Kofferraum hatten die Amateurganoven übersehen.

   Trotzdem, man konnte es drehen und wenden wie man wollte, für die Rückfahrt fehlte ein Rad. Der Chef und seine beiden  Begleiter nahmen die Bahn. Bolle lief unterdessen der bayrischen Landesregierung die Türen ein, wurde von einer Dienststelle zur andern geschickt und bekam schließlich einen Bezugsschein für einen Reifen mit Schlauch; eine passende Felge konnte ihm selbst der bayerische Ministerpräsident nicht beschaffen. Obendrein erwies sich der Bezugsschein zunächst als wertlos: der Händler konnte erst in frühestens 14 Tagen liefern. Bolle drohte ihm mit seiner Wiederkehr in zwei Wochen und zog mit leeren Händen ab.

   Schließlich erbarmte sich einer der Münchner Presseoffizier und schenkte ihm einen ausrangierten Reifen,  einen alten Schlauch und Flickzeug, damit er diesen Schlauch erst einmal in brauchbaren Zustand versetzen konnte.  Eine Felge besorgte er sich auf dem Schwarzmarkt.

   Die Fahrt nach Eschwege war reine Nervensache, die eine Engelsgeduld erforderte. Die Karkasse des Reifens wies nämlich eine Bruchstelle auf, an der sich der Schlauch unweigerlich durchscheuern musste. Das erste Mal flickt er den Platten nach etwa 100 Kilometern, dann wurden die Abstände immer kürzer. Flicken, flicken, flicken - flicken bis zum Überdruss.  Er war in aller Herrgottsfrühe gestartet, es wurde Mittag, dem Mittag folgte der Abend, dem Abend die Nacht.

   Immerhin hatte er Würzburg und damit auch Bayern hinter sich, als im Morgengrauen kurz vor Fulda der Schlauch mit einem lauten Knall seinen Geist endgültig aufgab. Da gab's nichts mehr zu flicken, selbst wenn er noch jede Menge Flickzeug gehabt hätte.

   Nach stundenlangem Warten näherte sich Motorengeräusch. Es war ein Nürnberger auf dem Weg nach Hamburg; am nächsten Tag wollte er dort heiraten. Bereitwillig lieh er Bolle sein Reserverad. Das hatte zwar nicht ganz die richtige Größe, aber wenn man nicht zu viel Gas gab, tat es schon seinen Dienst. Es bedurfte keiner großen Überredungskunst, um den  Bräutigam zu dem kleinen Umweg über Eschwege zu bewegen. Bolle versprach ihm eine Schachtel Zigaretten, das genügte vollauf.

   In Sontra fielen dem Hilfsbereiten für einen kurzen Moment die Augen zu. Bolle erlebte im Rückspiegel alles mit: Der übermüdete Nürnberger kam von der Fahrbahn ab und fuhr schnurstracks gegen eine mehrstufige steinerne Haustreppe. Bolle hatte noch nie eine alte Frau aus dem Stand sooo hoch springen sehen wie jene, die gerade diese Treppe kehrte.

   Die Vorderachse des Pechvogels musste gerichtet werden; so etwas ließ sich nicht im Handumdrehen machen. Bolle schleppte den Havaristen in seine Eschweger Stammwerkstatt, gab ihm die versprochene Zigaretten und fuhr ihn zum Bahnhof Niederhone, auf dem auch die D-Züge hielten. Zu seiner Hochzeit würde der  Mann schon noch früh genug kommen - wenn auch ohne sein imponierendes Auto.

   

<- voriges Kapitel

nächstes Kapitel ->