Der Kirchturmpolitiker
Wenn Bolle heute von allen Seiten eingemauert
ist, dann hat er sich das selbst eingebrockt. Bei seiner Ankunft in Diedenbergen
war die Welt noch in Ordnung. Außer der holprigen Hauptstraße war keine
einzige Gasse im Dorf gepflastert, und nirgendwo lag ein Kanal. Wenn der
Fleischer in der Hintergasse im Winter schlachtete, gefror das mit Blut
vermischte Wasser vorn auf der Hauptstraße zu schönen rosaroten Pfützen.
Wenn im Hochsommer die Wasserhähne nur noch tröpfelten, griffen die Leute
zum Eimer und hielten am Dorfbrunnen ihr Schwätzchen. In diese Idylle
platzt Bolle, verschafft der fortschrittsgläubigen SPD in einem populistisch
geführten Wahlkampf die Mehrheit im Ortsparlament, lässt sich zum Gemeindevertretervorsteher
wählen und fängt an, diese Welt zu verbessern. (Bild: Der inzwischen umgebaute
Gasthof ist jetzt ein Feinschmeckerlokal mit zwei Kochmützen im Restaurantführer
Gault Millau)
Fazit: Die Einwohnerzahl hat sich vervierfacht. Diedenbergen wurde zusammen
mit den Gemeinden Lorsbach, Wildsachsen, Wallau und Langenhain nach Hofheim
eingemeindet, das heute zu den beliebtesten Wohnorten im Rhein-Main-Gebiet
zählt. Die Baulandpreise sind ins Astronomische gestiegen. Jeder Quadratmeter
wird bebaut. Auf dem Nachbargrundstück stand zunächst nur ein Haus mit
einem schönen Weingarten davor. Heute stehen dort drei Häuser und versperren
den Blick in die Ferne. - So schneidet sich mancher Schlauberger ins eigene
Fleisch.
Wenn er den Kirchturm auch nicht mehr sehen
kann, so ist er dennoch stolz darauf, in der Diedenbergener Bausatzung
die maximal zweigeschossige Bauweise mit verankert zu haben. Die Stadt
Hofheim hat diese Bauvorschrift im Eingemeindungsvertrag akzeptiert. Das
bedeutet: in Diedenbergen ist kein Haus höher als der Kirchturm. Bauspekulanten
haben ihn deshalb als "Kirchturmpolitiker" verschrien, aber
die große Mehrheit der Einwohner ist heilfroh, das ihr Wohnort nicht durch
hässliche Betonklötze verschandelt werden kann. Fast das gesamte Gewerbegebiet,
das laut Anweisung der Landesregierung von jeder Gemeinde im Rhein-Main-Gebiet
auszuweisen war, an eine Großgärtnerei zu verkaufen, war auch kein schlechter
Gedanke und hat dem Ortsbild nicht geschadet.
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